Maris Vahter von Radis Furniture (MV): In den 1920er Jahren gründete der estnische Sperrholzfabrikant Luther mit VENESTA eine Niederlassung in London. Bald darauf schrieb das junge ebenfalls in der britischen Hauptstadt beheimatete Unternehmen ISOKON Designgeschichte: Entwürfe von Bauhaus-Gestaltern wie Walter Gropius und Marcel Breuer wurden in Kooperation mit VENESTA in der LUTERMA-Fabrik in Tallinn gefertigt.
VENESTA wurde schließlich zum unangefochtenen Marktführer für Sperrholz in Europa und beauftragte u.a. das Le Corbusier-Büro in den 1930er Jahren mit der Planung ihres Messestandes. Jetzt, mehr als 80 Jahre später, bringt RADIS Furniture in Zusammenarbeit mit dem deutschen Designer Michael Hilgers neue Produkte aus Tallinn auf den Markt…: Michael, sehen Sie in unserer Region vielleicht einen besonders fruchtbaren Nährboden für die Renaissance des Sperrholzes?
Michael Hilgers (MH): Absolut: Ich habe schon zahlreiche Möbel aus Schichtholz entworfen, hauptsächlich für deutsche Hersteller- und das Material musste immer aus Skandinavien oder dem Baltikum importiert werden. Es fühlt sich also absolut logisch an, sich mit einem Unternehmen zusammenzutun, das sich im Epizentrum der Sperrholzhistorie nahe
der Herkunft dieses schönen inspirierenden Materials befindet.
Die Idee, die von mir für RADIS entwickelten Schichtholzmöbel als Hommage an die damalige Idee „form follows function“ zu sehen schmeichelt mir – aber vielleicht sollten wir die „drei F“ in ein zeitgemäßeres „form, fun, function“ übersetzen: Aktuell benötigen wir wie in den 30er Jahren wieder hilfreiche einfache Dinge – aber heutzutage dürfen unsere Produkte auch eine eigene Identität besitzen, eine einzigartige Form, die emotional
aufgeladen ist.
Michael mit einer Skizze (mit freundlicher Genehmigung des Designers).
MV: Können Sie vorab ein wenig von Ihrem Hintergrund bis hin zur Gründung Ihres Designstudios in Berlin erzählen?
MH: In den 90er Jahren begann ich mit einer traditionellen Berufsausbildung als Tischler. Anschließend habe ich Architektur studiert – aber nach zwei Jahren Hochbauerfahrung habe ich mich entschlossen, wieder in den Innenraum zurückzukehren: Nachdem ich ein weiteres Jahr in einem großen Innenarchitekturbüro für Retail Design an mehreren Shopprojekten gearbeitet hatte, fehlte mir der unmittelbare Kontakt zum Designprozess und zu den Materialien selbst: Also habe ich damals beschlossen, mein eigenes Studio zu gründen und das zu tun, was ich am besten kann und am liebsten mag: kreativ zu sein und die Ergebnisse nahezu sofort überprüfen zu können.
MV: Können Sie einen typischen Ablauf für Ihre Art der produktentwicklung beschreiben?
MH: Als Architekt konzentriere ich mich zunächst auf den Raum, der uns umgibt und beeinflusst: Ich bin mehr vom Alltag inspiriert als von glänzenden Designmagazinen oder Coffee Table Books. Ich bin immer auf der Suche nach neuen (Produkt-) Nischen- und nur wenig kann mit dem Adrenalinkick verglichen werden, der von einem „Geistesblitz“ verursacht wird- also wenn einen Gestalter das das tolle Gefühl überkommt, die (hoffentlich) ultimative Lösung für ein Problem skizziert zu haben.
Einige meiner besten Einfälle kamen mir beim Zähneputzen oder unter der Dusche: Ich habe meistens eine Idee, wenn ich nicht an Design denke. Nachdem ich die ersten Skizzen angefertigt habe, konstruiere ich ein digitales 3D- Modell um zu prüfen, ob die Idee in der Realität funktionieren könnte; manchmal baue ich einen einfachen 1zu1 Prototypen. Zusammenfassend kann ich sagen, dass ein typischer Entwicklungsprozess, obwohl meine Entwürfe manchmal ziemlich rational erscheinen, zumindest am Anfang ziemlich spontan und intuitiv ist.
Skizze eines Eckbettes für Radis (mit freundlicher Genehmigung des Designers).
MV: Worauf sind Sie am meisten stolz, wenn Sie an Möbeldesign und die neue Zusammenarbeit mit RADIS denken?
MH: Ich freue mich sehr, in RADIS einen wirklich aufgeschlossenen Hersteller gefunden zu haben: Die meisten Traditionsunternehmen sind sich zwar bewusst, dass sie kontinuierlich innovative Produkte entwickeln müssen, um ihren Platz auf dem Markt behaupten zu können- aber wenn Sie diesen Unternehmen etwas wirklich Neues anbieten, hören Sie häufig: „Neu ist in Ordnung – aber nicht SOO neu…“: Viele Hersteller haben anscheinend Angst, die Ersten auf dem Markt zu sein, die etwas wirklich Einzigartiges oder ein Nischenprodukt anbieten.
Sie vermarkten häufig ähnliche, leicht modifizierte Artikel wie ihre Mitbewerber, oder wiederholen sich einfach immer wieder mit oberflächlichen Variationen ihrer etablierten Produkte. RADIS jedoch war von Anfang an sehr offen für meine Ideen und sah das Potenzial. Auf meine Ideen kann ich am Ende nur stolz sein, wenn sie Realität werden: Nur dann können sie dazu beitragen, die alltäglichen Wohnprobleme vielleicht ein wenig zu lösen. Das ist das Schöne an einer Zusammenarbeit mit einem frischen und unvoreingenommenen Hersteller wie RADIS.
MV: Welches sind Ihrer Meinung nach aktuell die heißesten Möbeltrends und Tendenzen?:
MH: Ich denke, „heiß“ könnte die falsche Umschreibung sein: Was jetzt heiß ist, könnte sehr bald wieder abkühlen. Möbeldesign sollte mehr als nur ein Trend oder Mode sein: Ich denke, unaufgeregte, hilfreiche und ökologische Dinge zu entwickeln ist nicht nur für Europa eine große Sache. Für mich gibt es immer noch zu viel Styling und BlingBling auf dem Möbelmarkt. Ich finde z.B., dass die Renaissance des
sogenannten skandinavischen Designs eine positive Gegenbewegung ist.
Eckbett entworfen für Radis von Michael Hilgers (Radis Furniture).
MV: Ich könnte mir ein Leben ohne meinen schönen Baumwollteppich nicht vorstellen- Aber ist für Sie ein Leben ohne Habseligkeiten denkbar?
MH: Ich bin alt genug, um die sinnlichen Vorzüge der analogen Welt erlebt zu haben – aber ich schätze viele Annehmlichkeiten des heutigen digitalen Lebens noch mehr: Früher habe ich gelernt, mich in Musik, Fernsehserien und Bücher zu verlieben – aber erst heute habe ich die grösste Freude daran, all diese genießen zu können, ohne sie physisch besitzen zu müssen. Für mich ist es heute wichtiger, jederzeit und überall Zugang zu diesen Dingen zu haben, als sie in meinen Regalen verstauben zu lassen.
Natürlich gibt es eine Menge Habseligkeiten, die ich brauche
und liebe – aber es gibt noch viel mehr Dinge, die meine Familie und ich in den letzten Jahren verschenkt oder verkauft haben. Wir fragen uns immer: Brauchen wir das wirklich? Was passt am besten zu uns? Und wenn wir wirklich ein neues Objekt benötigen, verlieben wir uns in den meisten Fällen in dieses dann sorgfältig ausgesuchte häufig nützliche und meistens formschöne Ding. Es ist eigentlich ganz einfach.
MH: Es geht nicht darum, mit wie wenig wir leben können – es ist viel mehr wichtiger zu selektieren, welche Dinge Sinn machen, was authentisch ist, was zu unserer Persönlichkeit passt: Nehmen Sie nur das SUV-Phänomen: Bei mehr als 70% der Fahrten sitzt der Fahrer alleine im Innenraum dieser riesigen Fahrzeuge. Die meisten Leute, die ein „Sports Utility Vehicle“ besitzen, „treiben“ Sport lediglich beim Fernsehen- und der vermeintliche nützliche Aspekt dieser 200-PS-Fahrzeuge ist es, am Wochenende mit ihnen zum Shopping zu cruisen: Schmutzige Mountainbikes (die meist nicht mal reinpassen …) in einem 50.000 Euro Auto?- auf keinen Fall…
Ein solches Fahrzeug zu fahren macht also keinen Sinn – aber mehr als 30% aller neu zugelassenen Autos sind SUVs. Diese Konsumenten haben sich halt für diese von der Industrie forcierte Art von „Mobilität“ entschieden – und ich befürchte, dass wir in den Häusern der gleichen 30% eine ebensolche Menge an unnötigem überdimensioniertem Zeug finden werden… Ich selbst habe entschieden, was für mein kleines Leben wichtig ist – und vielleicht sind einige meiner Entwürfe Optionen oder Inspirationen für andere Menschen, über zeitgemäßere pragmatische Lösungen nachzudenken, um unser Zuhause zu optimieren anstatt uns durch unser Mobiliar und die Dinge die wir konsumieren größer erscheinen zu lassen, als wir es eigentlich wirklich sind.
Walldesk RING für Radis von Michael Hilgers (Radis Furniture).
MV: Wenn man vom Essentialismus spricht, woran denkt man dann im Möbelbereich?
MH: Wenn es um Möbel geht, sind für mich die Produkte, die wir wirklich brauchen und die Produkte, die wir wirklich lieben von wesentlicher Bedeutung. Repräsentativ zu leben ist soo 90er Jahre: Das Zeug, das dich umgibt, ist nicht für deine Freunde oder Nachbarn gedacht – es sollte ein Teil von dir sein. Besonders in Zeiten, in denen es draußen rauer wird, benötigen wir eine authentische Schutzhülle, die für uns sicher und komfortabel ist.
Essentialistisch zu leben bedeutet vielleicht, minimalistische jedoch einzigartige Produkte zu besitzen, die unseren Lebensraum in komplizierten Zeiten einfach halten. Wenige jedoch wesentliche Dinge von guter Qualität zu besitzen und zu nutzen macht unser Leben in schwierigen Zeiten weniger komplex.
MV: Wenn Sie ein Möbelstück aus Sperrholz aus dem 20. Jahrhundert neu erfinden könnten, worauf würden Sie sich konzentrieren und warum?
MH: Die ESU, die Eames-Storage Unit beeindruckt mich: Dieses Möbel war seiner Zeit wirklich voraus und besitzt eine schlichte, einfache, fast architektonische Anmutung.
Cornerbed bekam sofort tolle Resonanz (mit freundlicher Genehmigung des Designers).
MV: Und noch ein paar neugierige Fragen 🙂 Der deutsche Schriftsteller Friedrich Schiller konnte nur mit faulen Äpfeln arbeiten, die in seiner Schreibtischschublade gestapelt waren. Was passt am besten zu Ihnen- eine Tasse Kaffee am Morgen oder ein Stück laktosefreier Milchschokolade?
MH: Woher wussten Sie von meiner Schokoladensucht und meiner Laktoseintoleranz? Schokolade ist in der Tat ein Treibstoff für meine Kreativität. Aktuell bin ich jedoch auf dunkle Schokolade umgestiegen, da diese weniger Milch enthält…. Aber meine wichtigsten Arbeitsmittel sind mein Pilot G-Tec C-4-Tintenroller und mein Skizzenbuch: Ohne diese Tools bin ich völlig hilflos und kann keine Ideen hervorbringen.
MV: Hören Sie gerade informative Podcasts oder lesen Sie etwas besonders Gutes?
MH: Ich bin kein guter Podcasts Hörer, weil ich eine sehr visueller Mensch bin; Auch lese nicht zu viele gedruckte Designpublikationen. Mir ist ein guter T.C. Boyle oder John Irving lieber.
Designer Michael Hilgers (mit freundlicher Genehmigung des Designers).
MV: Haben Sie Tips für Bars / Restaurants / Cafés in Ihrer Heimatstadt Berlin?
MH: Das „Burgeramt“ in Friedrichshain ist zu empfehlen: Einige HipHop-Devotionalien an den Wänden, ein Guacamole-Bacon-Burger inclusive Pommes mit Erdnusssauce… Ganz in der Nähe meines Kreuzberger Studios befindet sich das „Gasthaus Figl“ (Sie sollten unbedingt die Südtiroler Pizza probieren! ). Abgesehen davon gehe ich gerne zu Clubkonzerten: Berlin besitzt eine Menge wirklich schöner kleiner Veranstaltungsorte wie z.B. die Columbia Halle, Gretchen oder Lido.
MV: Verspüren Sie manchmal eine saisonale Rastlosigkeit, die auf Deutsch als „Zugunruhe“ bezeichnet wird- und was tun Sie dagegen?
MH: Um ehrlich zu sein: Ich musste zuerst das Wort „Zugunruhe“ googeln, weil ich es noch nie zuvor gehört habe. Und ja – tatsächlich leide ich manchmal unter dieser Indikation: Zur Linderung dieses Leidens habe ich meine eigene einfache Raumlösung auf Rädern entwickelt und gebaut: Mein VANJOY-Reisemobil (www.vanjoy.de) bringt meine Entwurfsmethodik auf den Punkt: Dieses kompakte minimalistische, multifunktionale und erschwingliche Reisemobil ist für mich und meine Frau der perfekte Rückzugsort, um unsere Zugunruhe zu kurieren und uns
gleichzeitig dabei zu Hause zu fühlen.
MV: Am Ende unseres Interviews habe ich nur noch eine Frage: Sie haben für RADIS den Wandsekretär RING und das CORNERBED entwickelt- Aber wie ist es eigentlich zu einer Zusammenarbeit mit dem Unternehmen gekommen?
MH: Ich habe Mauri Abner, den Inhaber von RADIS, vor einigen Jahren zum ersten Mal auf der IMM Köln getroffen: Letzten Januar habe ich dann auf der Messe gesehen, wie sich sein Stand und seine Kollektion entwickelt haben – und ich habe Mauri erneut mit einigen neuen Designs kontaktiert. Der Rest ist Geschichte.
MV: Vielen Dank für dieses Interview, Michael!